Ich habe erneut durch offizielle Darstellungen und Wissenschaftsblogs quergelesen, um aus der Fülle widersprüchlicher Informationen für mich zu einem konsistenten Bild zu kommen. Das erste, was jeder zu erfahren versucht, ist eine Einschätzung, ob nun dieses Ereignis, die Ausbreitung einer neuen Variante der Influenza, für die eigene Familie eine Gefahr droht. Dabei drohen zwei Wertungsfehler.
Der eine Wertungsfehler ist die Hysterie. Je intensiver man sich mit einer Sache beschäftigt, desto wichtiger erscheint sie einem. Man nimmt im Laufe der Zeit nur noch die Schweinegrippe in Bezug auf alles andere wahr, und nicht etwa eine Krankheit als eine von vielen in einer Welt, die aus vielem anderem besteht, das mit Krankheiten gar nichts zu tun hat. Zum 1 Mai gibt es 331 im Labor bestätigte Fälle von Schweinegrippe mit insgesamt 10 bestätigten Todesfällen – in Bezug auf die übliche Sterblichkeit bei Grippe für hospitalisierte Fälle ist das nicht auffällig. Wenn man der Hysterie entgegentritt, kann aber einen anderen Fehler machen. Der ist die Leitfertigkeit.
Daß eine Infektion im Moment wenig Fälle verursacht heißt nicht, daß das dauerhaft so bleiben muß. Wie gefährlich diese Influenza ist, weiß man erst, nachdem sie sich ausgewirkt hat, also nach dem Ereignis. Das ist ein Punkt, in dem es Parallelen zum Thema der Klimaveränderung gibt. Daß nach einer Änderung der globalen Temperatur um ca. 0,8 Grad in einem Jahrhundert einem die Klimafolgen nicht dramatisch erscheinen, sagt nichts darüber aus, ob nach weiteren 1,2 Grad Temperaturänderung einem die Folgen immer noch undramatisch vorkommen werden. Erst recht ist damit nichts zu dem gesamten Ereignisraum unterschiedlich starker Vermeidungsmaßnahmen und uns noch nicht ganz bekannter Ereignismöglichkeiten der Erde gesagt und darüber, wie dramatisch uns Temperaturänderungen erscheinen mögen, die irgendwo von 2 bis 6 Grad bis 2100 reichen könnten. Genau das ist der derzeitige Informationsstand bei der Schweinegrippe. Daß ihr bisher nur eine überschaubare Zahl an Erkrankungen und Todesfällen zugeordnet werden können, gibt uns keinen Anhaltspunkt dafür, ob wir diese Influenza bis 2010 immer noch als harmlos ansehen werden, wenn inzwischen möglicherweise in mehreren Wellen größere Teile der Weltbevölkerung infiziert waren und das Virus zudem Gelegenheit hatte, weiter zu mutieren und seine Virulenz zu optimieren (die Infektionsrate) und auch seine Mortalität womöglich zu erhöhen (die Zahl der Menschen, die in Folge der Infektion versterben).
Um es klar zu machen – auf erhöhte Virulenz hin wird selektiert – es werden die Viren am besten verbreitet, die die höchste Virulenz haben (bei Vernachlässigung anderer Faktoren). Erhöhte Mortalität hingegen kann einfach dadurch entstehen, daß die Virenpopulation dramatisch anwächst, wenn große Bevölkerungsteile infiziert sind, und dann dadurch eine größere Bandbreite an mutierten Viren möglich ist. Einige Mutationen werden dabei zur Folge haben, daß der Virus von der körpereigenen Immunabwehr schwerer erkannt wird und daß lebenswichtige Organe stärker betroffen sein können, etwa daß die Lungen stärker befallen werden oder das Herz stärker befallen wird, und dann eine Lungenentzündung oder eine Entzündung des Herzens zum Tode führen. Wir wissen also jetzt noch gar nicht, wie virulent und wie tödlich das Virus im Laufe des Jahres sein werden.
Die 6 Pandemiestufen der Weltgesundheitsorganisation WHO mögen sehr willkürlich erscheinen. Ein paar Infektionen von Menschen durch Tiere und schon geht es rauf bis zur Stufe 3. Ein paar bestätigte Infektionen zwischen Menschen und es geht auf Stufe 4. Infektionen zwischen Menschen in zwei verschiedenen Staaten einer WHO-Region, und schon ist man auf Stufe 5. Stufe 6 erreicht man, wenn die Krankheit sich in verschiedenen WHO-Regionen unabhängig voneinander ausbreiten kann. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das der Fall sein wird. Die ganze Zeit ist damit nichts darüber gesagt, ob die Krankheit je mehr als ein paar 1000 und selbst ein paar 10000 Menschen betreffen wird und mehr als ein paar Dutzend Tote dabei herauskommen – das im Vergleich zu z.B. ca. 8000 Grippetoten in einem normalen Jahr in Deutschland. Aber das wichtige hier ist das Potential, daß die Infektion bis zu diesem Punkt gewonnen hat: eine neue Infektion hat bewiesen, daß sie übernational von Mensch zu Mensch übertragen werden kann und nicht auf eine Region begrenzt ist. Die Voraussetzungen für eine Pandemie, einen global verbreiteten Befall von Menschen ist gegeben. Was das in Erkrankungs- und Todesfällen übersetzt bedeutet, ist damit noch nicht gesagt. Aber für das, was möglich ist, geht dann in die Wertung ein, daß das Virus Eigenschaften hat, auf die unser Immunsystem eben noch nicht vorbereitet ist. Gene verschiedener Virenstämme von Schweine-, Vogel- und Menschengrippe wurden hier ausgetauscht, in Schweinen ausgebrütet und auf den Menschen übertragen. Und vermutlich werden die meisten Menschen im Gegensatz zu alten Influenzastämmen hier durch keine Grundimmunisierung geschützt werden.
Die Ausbreitung der Schweinegrippe jetzt bringt auch ein Dilemma mit sich. Die Impfstoffhersteller müssen sich bald entscheiden, ob sie wie gewohnt einen Impfstoff für die normalen Saisonimpfungen im Herbst während der nächsten Monate vorbereiten, oder ob sie einen Impfstoff herstellen, der gezielt die Pandemie mit dem neuen Schweinegripenvirus unterdrücken soll. Die Entscheidung wird man auf der Basis vermutlich unzureichender Daten treffen müssen. Aber man muß sie bald machen. Und davon könnte abhängen, wie viele Menschenleben die nächste Impfkampagne rettet – oder eben nicht.
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