Sonntag, 15. August 2010

Rekordticker - nur eine Spielerei?

Rekordticker sind anscheinend dieses Jahr in. Immerhin spricht viel dafür, daß zumindest in einer, vielleicht in mehreren globalen Temperaturzeitreihen 2010 ein neuer Jahresrekord aufgestellt wird. Auf Basis eines gleitenden 12-Monate-Mittels gab es bereits Rekorde in den Zeitreihen von NASA-GISS und NOAA-NCDC und war das erste Halbjahr 2010 das wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen. Von Zeit zu Zeit gibt zum Beispiel Georg Hoffmann auf seinem Blog PrimaKlima einen Rekordticker heraus. Spannender ist der Blick auf das Seeeis in der Arktis, obwohl wir 2010 ziemlich sicher keinen neuen Rekord bei der Eisausdehnung sehen werden, beim Eisvolumen hingegen schon.
Eisausdehnung (mindestens 15% Eisbedeckung) des Nordpolarmeers in Millionen Quadratkilometern nach NSIDC.



Wer sich mit der Statistik verschiedener Trends beschäftigt hat, weiß daß der Blick auf Rekorde manchmal eher eine Spielerei ist. Einer der Gründe dafür ist, daß selbst in einer Zeitreihe, die keinen Trend hat, im Laufe der Zeit immer neue Rekorde in beide Richtungen zu erwarten sind. Sollte das statistische Rauschen auf der Zeitreihe normal verteilt sein, dann steckt hinter der Statistik der Extremwerte auch wieder die Normalverteilung. Die weiter vom Zentrum entfernten Werte sind schnell sehr unwahrscheinlich, aber auch der weiteste Ausreißer ist nicht unmöglich. Den Abstand vom Mittelwert bestimmt man bequemerweise in Vielfachen des Streuungsmaßes, insbesondere der Standardabweichung. Das Integral der Verteilung kann man für beliebige Grenzen berechnen und weiß daher, daß zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, auf einer Seite die doppelte Standardabweichung zu übertreffen, bei 2,3% liegt. Bei der dreifachen Standardabweichung sind wir bei 0,13%, beim vierfachen Wert bei 0,003%. Wenn wir innerhalb von 100 Jahren ein Jahr haben, das vom Mittelwert um das doppelte der Standardabweichung abweicht, sind wir nicht überrascht, sondern würden das gemäß der Verteilungswahrscheinlichkeit erwarten. Weichen hingegen gleich 5 Werte um mehr als 2 Standardabweichungen ab, ist das schon ungewöhnlich, wenn auch noch nicht sehr. Ab einem gewissen Umfang solcher Abweichungen müßten wir die bislang angenommene Verteilung um den Mittelwert anzweifeln. Entweder haben wir einen falschen Wert für die Standardabweichungen angenommen oder die Verteilung ist breiter als eine Normalverteilung oder die Eigenschaften der Verteilung haben sich irgendwann verändert. Liegt ein Trend unter, ist das Prinzip das gleiche, wir schauen jetzt nur nach der Größe der Abweichung vom Trend, wieder gemessen in Einheiten der Standardabweichung. (Wer sich mit Statistik auskennt, wird sich wundern, warum ich so viele Worte mache - es gibt exakte Tests, die für eine Normalverteilung bei bestimmten Voraussetzung zeigen, wie signifikant ungewöhnlich Ausreißer sind. Aber in der Realität sind die Daten weder genau normalverteilt, noch sind sie unkorreliert, was Auswirkungen auf den zu wählenden Test hat. Daher bleibe ich bei groben, eher qualitativen Einteilungen.)

Betrachten wir nun Maße für die Seeeisbedeckung in der Arktis. Da haben wir verschiedene Maße zur Verfügung, insbesondere die Seeeisausdehnung (extent) gemessen als die Fläche, auf der das Meer zu mindestens 15% (oder 30% - je nach Quelle) mit Eis bedeckt ist. Je nach Satellit und Berechnungmethode können verschiedene absolute Werte herauskommen, aber der berechnete Trend ist nicht sehr verschieden. Ich schaue normalerweise (wie viele andere) auf die NSIDC-Daten. Abweichungen kommen zum Beispiel dadurch herein, daß zum einen die Satelliten den Nordpol nicht abdecken, und daher für eine Scheibe Annahmen gemacht werden müssen, etwa die, daß in der Scheibe um den Nordpol die Bedeckung durch Eis durchgängig ist. Zum anderen ist an der Küste nicht ganz eindeutig, ob jetzt Seeeis oder Schnee an Land oder einfach Land vom Satelliten als Seeeispixel identifiziert werden. Es gibt also einen gewissen Fehler, vor allem zwischen verschiedenen Produkten, weniger aber innerhalb einer Zeitreihe, weshalb der Trend genauer ist als der Einzelwert. Ein besseres Maß, aber schwieriger zu bestimmen ist das Eisvolumen, wo also Eisausdehnung und Eisdicke eingehen. Es ist deshalb ein besseres Maß, weil der Wind unter Umständen Eis zusammenschieben und auseinandertreiben kann und dadurch die Eisausdehnung ein Zufrieren oder Abschmelzen andeuten kann, welches gar nicht real ist. Für die Beurteilung der Eisschmelze ist es natürlich sehr relevant, ob die Fläche gleich bleibt und die Eisdicke auch oder ob bei stabiler Eisschmelze das Eis dünner wird. Letzteres war in den letzten Jahren festzustellen.
Eisausdehnung (min. 15% Eisbedeckung) im Nordpolarmeer - Anomalie für September 1979 bis 2009 und Trend.

Bei der Seeeisausdehnung war der letzte Rekord für das jährliche Minimum im Eis (üblicherweise im September) 2007 aufgrund der globalen Erwärmung und zugleich ungewöhnlichen Windverhältnissen, die das Eis zusammengeschoben hatten. Weil das Minimum so deutlich war, hatte ich damals darüber spekuliert, ob hier ein Bruch des bisherigen Abwärtstrends vorlag. Die Seeeisausdehnung war um 0,06 Millionen Quadratkilometer pro Jahr gesunken, doch der Wert von 2007 wich um mehr als 3 Standardabweichungen von diesem Trend ab (Trend berechnet ohne die Werte ab 2007!). Die Wahrscheinlichkeit dafür bei 31 Werten war 0,2% bzw. ein Ereignis, das man alle 15.000 Jahre erwarten würde. Doch in den folgenden 2 Jahren war das Minimum im September nicht mehr ganz so stark ausgeprägt. In Einheiten der Standardabweichung ausgedrückt 2008 noch 2,2 und 2009 1,5 unter dem Trend - Abweichungen, die statistisch gesehen nicht mehr aufregend sind, aber in der Häufung doch unwahrscheinlich. 2010 ist nach Angaben der NSIDC nicht von einem neuen Rekordwert auszugehen, aber doch vermutlich von einem Minimum unter dem von 2009 (falls die Schmelzrate im August auf dem mittleren Niveau der Vorjahre liegt) und somit um 2 Einheiten der Standardabweichung unter dem Trend. Bei dann 4 aufeinanderfolgenden Werten, die um 1,5 bis über 3 Einheiten der Standardabweichung unter dem Trend liegen würde ich von einem Trendbruch ausgehen und das Fazit ziehen: ja, der Trend bei der sommerlichen Eisschmelze, der von 1979 an bestanden hatte, wurde 2007 gebrochen und weist seitdem steiler nach unten - die sommerliche Eisschmelze hat sich durch die globale Erwärmung beschleunigt.
Anomalie des Eisvolumens nach Analyse mit PIOMAS bezogen auf Mittelwert getrennt für jeden Tag des Jahres für 1979-2009 (Polar Science Center).

Deutlicher ist das Bild bei dem Eisvolumen. Hier werden bekannte Eisdaten in ein Eismodell eingegeben, das durch Datenassimilation das gesamte Eisvolumen als Abweichung von einem Mittelwert für den jeweiligen Tag zwischen 1979 und 2009 berechnet. Diese Modellrechnungen werden durch Satellitenmessungen des Eisvolumens überprüft. Auch hier gibt es einen klaren Trend aufgrund eines jährlichen Abschmelzens des Eises (und da hier eine Anomalie betrachtet wird, ist der Gang der Jahreszeit hier bereits herausgerechnet). Seit Mai 2010 wurde der Bereich von 2 Standardabweichungen um den Trend verlassen und im Sommer lag die Anomalie des Eisvolumens mehr als 4 Standardabweichungen unter dem Trend, was für weniger als 0,0032% der Werte zu erwarten ist - bei bisher 11500 Tagen an Daten ist das für 0,37 Tage zu erwarten, doch hier ist es für über eine Woche der Fall. Wie man in der Graphik sehen kann, war im Sommer 2007 der Bereich von 2 Standardabweichungen um den Trend schon einmal kurz verlassen worden. Danach ist der Trend nicht mehr wirklich erreicht worden. Auch hier ist anscheinend schon 2007 der Trend verlassen worden, aber bisher war dieses Ereignis noch nicht statistisch signifikant. Seit diesem Jahr ist das der Fall.

Fazit: Rekordticker sind zwar eine spannende Sache, aber erst eine Häufung von Rekorden und vor allem Trendbrüche und Abweichungen vom Trend, die den normalen Streuungsbereich verlassen, sind bedeutsam. Genau das aber beobachten wir in den letzten Jahren. Für das arktische Seeeis gilt, daß seit 2007 die globale Erwärmung eine neue Qualität erreicht hatte, die in ca. 30 bis 40 Jahren zum sommerlich eisfreien Nordpolarmeer führen wird.

1 Kommentar:

  1. Danke für Ihre(n) Artikel. Er ist wie die vorherigen gut verständlich, informativ und -wenn's sein muss- recht deutlich, ohne all zu tief in Polemik abzugleiten. Für Diskussionen mit anderen Personen eine echte Fundgrube!
    MfG

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