Das Gedächtnis des Meeres ist ein Buch von Eugen Seibold, das 1991 im Piper-Verlag herauskam. Mir fiel es im Antiquariat in die Hände, und auch wenn ich bisher nur einzelne Kapitel davon durchschmökert hatte, war es doch schon inspirierend. Genauso, wie uns die Schichtungen der Erde etwas darüber erzählen, wie über die letzten Milliarden Jahre der Erdgeschichte sich die Zusammensetzung der Atmosphäre geändert hatte und wann zum Beispiel der steigende Sauerstoffgehalt in den Meeren anfing, das gelöste Eisen auszufällen, genauso wie diese Ablagerungen uns auch sagen, wann die Erde von Eis bedeckt war, und genauso, wie beides zusammengenommen uns erzählt, daß die Zusammensetzung der Atmosphäre unser Klima beeinflußt, aber auch, daß das Leben auf der Erde wiederum die Zusammensetzung der Atmosphäre beeinflußt, genauso erzählen uns geologische Schichtungen auch etwas darüber, wie sich die Meere verändert haben. Und auch die Veränderungen der Meere sind eng verbunden mit dem Klima der Erde. Das Gedächtnis der Meere kann uns auch etwas über unsere Zukunft sagen.
Ein augenfälliges Beispiel ist das der Ruinen des Serapistempels in Pozzuoli in der Nähe von Neapel. Um 1750 wurde der Tempel ausgegraben und erstaunte die Zeitgenossen dadurch, dass die Säulen im zweiten Viertel von Bohrmuscheln besetzt waren, obwohl dieser Bereich des Tempels klar über Meereshöhe stand. Wie konnte das Meerwasser hier über 6 Meter hoch gestiegen sein, wo es doch im Mittelmeer keine nennenswerten Springfluten gibt? Zumal das Wasser für die Anlagerung der Muscheln länger dort gestanden haben mußte? Offensichtlich hatte das Land sich zeitweilig um mehrere Meter gesenkt und wieder gehoben und tat dies auch weiterhin, wie wiederholte Messungen im 19. Jahrhundert auch ergaben. Die Antwort auf dieses Problem ist der Vulkanismus in der Region. Hebungen und Senkungen ließen sich gut mit der vulkanischen Aktivität in Einklang bringen. Bei großer Aktivität erwärmte sich der Boden und hob sich, bei einer Abkühlung senkte er sich. Das zeigt aber, wie schwierig das Geschäft ist, über lange Zeiträume zu verfolgen, wie der Meeresspiegel sich hob und senkte, wenn doch gleichzeitig auch das Land ansteigen und fallen konnte.
Verfolgt man an geeigneten Stellen die geologischen Schichtungen, dann kann man in der Tat Folgen von Sedimenten unterscheiden, die auf ein wiederholtes Vordringen und Zurückweichen der Meere hinweisen. Über die letzten 2 Millionen Jahre kann man an geeigneten Stellen dabei gut nachverfolgen, wie in den Eiszeiten die Meere zurückwichen und in Zwischeneiszeiten erneut vordrangen. Verräterische Schichtfolgen wären Sandstein (durch Erosion von Felsen aufgeschichtet), Schiefertone, Kohle, Ton, Schiefertone mit Fossilien aus Strandnähe (jetzt ist das Meer über dieses Landstück vorgedrungen), Kalk mit Schieferton (Flachmeer, wo Kalkschalen bis zum Grund fallen, ohne wieder gelöst zu werden, vermischt mit Sedimenten von Flüssen), Kalk mit Meeresfossilien und ähnliche Schichten in umgekehrter Reihenfolge, gefolgt von ähnlichen Schichtfolgen. Datiert man diese Schichten, etwa mit der Radiocarbondatierung, kann man daraus ableiten, wie sich an dieser Stelle der Meeresspiegel im Laufe der Zeiten entwickelt hat. Doch es gibt dabei viele mögliche Probleme. Dazu gehört das obige Beispiel: Vulkanismus kann zu Hebungen und Senkungen führen. Auch auflastende Eisschichten und Sedimente können Land sinken oder nach ihrer Entferung wieder steigen lassen. Aber auch die Datierung von Schichten kann verfälscht werden. Zum Beispiel verjüngen nach unten wachsende Wurzeln das Alter einer Sedimentschicht nach der Radiocarbonmethode.
Für Geologen ist die Interpretation der geologischen Schichten verbunden mit dem Wissen um all die Möglichkeiten, die diese Deutungen verfälschen können. Genau deshalb wirkt es absurd, wenn manchmal von unberufener Seite der Einwand kommt, daß unsere heutigen Daten über den Meeresspiegelanstieg falsch seien, weil man nicht berücksichtigt habe, daß sich das Land infolge des Abschmelzens großer Eisschichten nach der letzten Eiszeit stellenweise, wie in Skandinavien, nach wie vor hebe. Es ist den Geologen und Ozeanologen genauso bewußt, wie Meteorologen, die lange Temperaturzeitreihen aufstellen bewußt ist, daß sie dabei gegebenenfalls einen Wärmeinseleffekt zu korrigieren haben.
Über viele Millionen Jahre findet man aber bei der Hebung und Senkung des Meeresspiegels ein komplizierteres Bild als lediglich die Bildung und das Schmelzen großer Eispanzer als Folge der Eiszeiten und Warmzeiten. Für den Geologen wird über Dutzende oder Hunderte von Millionen Jahren die Wirkung der Verschiebung der Kontinentalplatten augenfällig. Bewegen sich zwei noch verbundene Kontinentalplatten auseinander, so kann das geschehen, weil der Erdmantel darunter aktiv wird, die Erdkruste darüber erhitzt und sich aufwölben läßt. Dies treibt nicht nur die Kontinentalplatten auseinander, es bildet sich dazwischen auch sogenannte ozeanische Kruste, die aus basaltischem Material höherer Dichte besteht. Kühlt sich dieses ab, sinkt es ab, und zwar ungefähr proportional zur Wurzel aus der Zeit seit der Bildung der neuen Kruste. Mit dem Auseinanderdriften von Kontinenten bildet sich also Meeresgrund, der immer tiefer sinkt und damit immer mehr Platz für das Meerwasser läßt. Über einige Hundert Millionen Jahren ändert sich die Menge an Meerwasser aber nicht tiefgreifend. Hat sich also viel neuer Meeresboden gebildet, und die Meeresbecken dadurch vergrößert, sinkt der Meeresspiegel relativ zu den Kontinenten. Der Meeresspiegel geht zurück. Diese Situation könnte im Trias bestanden haben, als der Urkontinent Pangäa auseinanderbrach. Neue Meeresbecken bildeten sich, gleichzeitig hoben sich die Kontinente (die Gründe lasse ich hier außen vor) vor mehr als 200 Millionen Jahre. Der Rückgang des Meeresspiegels erfolgte dabei extrem langsam, nämlich mit 1 mm pro Jahrhundert (man vergleiche mit einem Anstieg von 2 bis 3 mm pro Jahr derzeit aufgrund der Erwärmung der Meere). Trotzdem konnte sich dadurch in 10 Millionen Jahren der Meerespiegel um 100 Meter senken. Später in der späten Kreidezeit bildeten sich die mittelozeanischen Rücken mit gesteigerter Geschwindigkeit. Zugleich senkten sie sich durch erhöhte vulkanische Aktivität langsamer ab. Die Folge war, daß die Meeresbecken flacher wurden. Der Meeresspiegel stieg über die Jahrmillionen zum Ende des Zeitalters der Dinosaurier um über 100 Meter an. Die Meeresspiegeländerungen aufgrund der Eiszeiten waren hingegen eine Sache, die über wenige 1000 Jahre ablief mit Änderungsgeschwindigkeiten von über einem 1 cm pro Jahr. Änderungen des Meeresspiegels über beide Zeitskalen lassen sich geologisch feststellen, wobei die zweite, die schnelle Zeitskala uns mit Blick auf den Klimawandel besorgt macht.
Wenn Geologen aus den Schichtfolgen ableiten können, daß der Meeresspiegel über die Erdzeitalter so oft angestiegen und wieder gefallen ist, mag ihnen das zum Teil auch ein Gefühl dafür geben, daß auch ohne Eingriff des Menschen der Meeresspiegel hochvariabel ist und sich die aktuellen Änderungen des Wasserstands damit relativieren. Aber der Trugschluß ist dabei, zu vergessen, daß für die heute lebenden Menschen Meerespiegeländerungen auf Zeitskalen von Jahrtausenden oder gar Jahrmillionen nicht relevant sind. Daß wir es aber schaffen, den Meeresspiegel in diesem Jahrhundert in der Größenordnung von einem Meter zu ändern, das ist für uns hochrelevant.
Sonntag, 9. Januar 2011
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