In den Kreisen der Leugner und der Verschwurbeler des wissenschaftlichen Sachstands hat der Begriff der postnormalen Wissenschaft großen Eindruck hervorgerufen. Wissenschaftssoziologen erwecken mit dem Begriff den Eindruck, dass es besondere Umstände gibt, in denen die Auswirkungen wissenschaftlicher Feststellungen die Inhalte der Wissenschaft beeinflussen. Und wenn man Wissenschaftlern Fälschungsabsichten unterstellen will, wie es Leugner nun einmal tun, sind solche Unterstellungen sehr willkommen. Genauso willkommen, wie die Behauptung, dass im Rahmen der postnormalen Wissenschaft eine auf Blogs ausgedehnte öffentliche Fachbegutachtung wissenschaftlicher Ergebnisse hilfreich sei. Im folgenden will ich das kritisieren. Anlaß dafür ist allerdings ein Blogbeitrag von Sylvia S. Tognetti, auf den in Rabett Run verwiesen wurde, den ich für ganz besonders gut halte. Wenn jemand eine Zusammenfassung dafür sucht, wie mit dem Konzept der postnormalen Wissenschaft geschludert wurde, was bei der Diffamierung der Temperaturrekonstruktionen von Mann et al. so alles geschah, und wie der Krieg gegen das IPCC geführt wurde, findet er hier alles an einem Fleck.
Um zu verstehen, was postnormale Wissenschaft ist, muss man erst einmal wissen, was denn normale Wissenschaft ist. Dahinter steht ein Konzept von Thomas Samuel Kuhn, der die Wissenschaft so beschreibt, dass in den normalen Phasen im Rahmen von Paradigmen gearbeitet wird. Paradigmen sind gedankliche Konzepte, wie man sein Verständnis von der Natur oder der Umwelt einordnen kann. Ein Beispiel für ein Paradigma wäre in der Physik die Vorstellung eines absoluten Raumes und absoluter Zeit, gegen die jede Bewegung gemessen werden könnte (Physik nach Newton) im Gegensatz zu einem anderen Paradigma einer relativistischen Physik (nach Einstein), in der Raum und Zeit von Bewegungszuständen, Energie oder Masse abhängig sind. Solange ein Paradigma besteht, versucht man jede Erkenntnis darin einzufügen. Irgendwann klappt das nicht mehr, Widersprüche im bestehenden Paradigma lassen sich nicht mehr verdrängen und der Paradigmenwechsel erfolgt - die Wissenschaft durchläuft eine revolutionäre Phase und ist weiter vorangeschritten in ein neues Paradigma, in dem wieder normale Wissenschaft erfolgt. Die Ergebnisse der Wissenschaft in den verschiedenen Paradigmen ist nach Kuhn grundsätzlich nicht vergleichbar, da die Begrifflichkeiten sich verändert haben. An dieser Erklärung dafür, wie Wissenschaft funktioniert, ist einiges auszusetzen, ähnlich wie bei anderen Erklärungsversuchen. Ich komme darauf zurück. Aber angenommen, das wäre eine gültige Beschreibung der Vorgehensweise in der Wissenschaft. Was ist dann postnormale Wissenschaft?
Der Ansatz ist hier, dass sich der Rahmen verändert hat, in dem die Wissenschaft arbeitet. Sie baut ihre Paradigmen nicht mehr ungestört von äußeren Einflüssen auf (obwohl Wissenschaft immer auch eine kulturelle Komponente hat, aber das führt jetzt zu weit), sondern wird durch die Auswirkungen ihrer Ergebnisse beeinflusst. Wenn nämlich die wissenschaftlichen Ergebnisse für die Menschheit gravierende Gefahren voraussagen, die Wissenschaft dabei zugleich sehr komplex und in ihren Ergebnissen unsicher ist, müssen weitreichende politische Entscheidungen auf wissenschaftlichen Ergebnissen aufbauen, die einer sehr genauen Erläuterung bedürfen. Die Wissenschaftler müssen Politik und Öffentlichkeit dann in ihre Arbeit einbeziehen, weil die Folgen ihrer Ergebnisse gesellschaftlich so gravierend sind.
Meine Kritik an dem Modell (in anderem Zusammenhang hatte ich schon einmal etwas dazu geschrieben) setzt an zwei Punkten an. Der eine Punkt ist der, dass die Unterstellung, die Klimaforschung wäre hier ein relevantes Beispiel, daran scheitert, dass die entscheidenden Feststellungen der Klimaforschung gar nicht besonders komplex und unsicher sind. Wir wissen mit so geringer Unsicherheit, dass es praktisch einer Tatsache gleichkommt, dass der Mensch mit den Emissionen von Treibhausgasen das Klima aktuell beeinflußt und dass dieses auf Dauer zu gravierenden Veränderungen auf der Erde führen muss. Diese eine Feststellung reicht durchaus, um politische Maßnahmen zu begründen. Und diese Feststellung steht als Vermutung seit Anfang des 20. Jahrhunderts im Raum (nach Arrhenius), gilt seit Ende der 80er Jahre als durch Beobachtungen gesichert (z.B. laut Hansen), und wurde in den 90er Jahren unter anderem durch die ersten IPCC-Berichte bestätigt. Die Wissenschaft zum Klimawandel ist insgesamt ein sehr weites Feld, in dem Teile komplex und unsicher sind (z.B. Wolken, Wirkungen von Aerosolen, Dynamik der Eiskappen, Kopplung der Transportströme in den Ozeanen, Klimafolgen). Aber die grundlegenden Aussagen sind es nicht. Man müßte also mindestens qualifizieren, was man denn nun genau mit der postnormalen Wissenschaft meint. Solche Qualifizierungen finde ich weder bei den Leugnern (wieso auch) noch bei den "unvoreingenommenen Vermittlern" ("honest broker"). Schon bei letzteren finde ich den Begriff postnormale Wissenschaft als ein Instrument, um die gängige Klimaforschung zu diskreditieren (z.B. bei von Storch).
Mein zweiter Kritikpunkt ist hier, dass an sich getrennte Bereiche vermengt werden (ein offensichtliches Problem). Wissenschaftler kommen zu Ergebnissen, die sie mitteilen. Politiker (im weitesten Sinne) nutzen diese Informationen, um damit ihre politischen Entscheidungen zu begründen. Wenn die wissenschaftlichen Ergebnisse politisch relevant sind, ändert sich an diesem Modell jedoch nichts. Nun gibt es Wissenschaftler, die in so einem Fall auch politische Aussagen von sich geben (zum Beispiel tritt Hansen bei Demonstrationen auf oder schreibt Bücher oder Essays, in denen er vor den Konsequenzen der Treibhausgasemissionen warnt und Maßnahmen fordert). In dem Moment, wo sich Hansen so äußert, tut er das außerhalb des wissenschaftlichen Rahmens. Er wechselt den Hut, den er aufhat. Schreibt er für ein wissenschaftliches Journal über Forschungsergebnisse, hat er einen Wissenschaftlerhut auf. Äußert er sich zu der Notwendigkeit, etwas gegen den Klimawandel zu tun, setzt er den Politikerhut auf. Die Annahme, dass die Wissenschaft in solchen Fällen ihren Charakter verändern und zu etwas in sich politischem werden würde, ist daher nicht gerechtfertigt. Den Hut zu wechseln, ist legitim. Jeder Mensch tut das - bei den meisten ist der wichtigste Wechsel zwischen dem Menschen in seinem Beruf (z.B. Polizist) und in seinem Privatleben (z.B. Fußballfan), der einen manchmal auf genau gegenüberliegende Seiten in einem Konflikt (Polizisten gegen Hooligans) bringen kann. Kein Mensch käme auf die Idee, wenn Polizisten einen Kollegen in seiner Freizeit als randalierenden Fußballfan erwischen, der Polizei ein Hooligan-Problem zu unterstellen. Wenn man also die Klimaforschung als politisch motiviert sehen will, müßte man nachweisen, welche Ergebnisse der Forschung wissenschaftlich nicht haltbar und politisch motiviert sind. An der Aufgabe scheitern Leugner zuverlässig seit gut 25 Jahren.
Neben dieser Kritik könnte nun jemand, der an dem Konzept der postnormalen Wissenschaft hängt, an meinem Beitrag stören, dass es doch eigentlich nur darum geht, besser zu berücksichtigen, dass ein wachsender Teil der Wissenschaft sich auf Aussagen bezieht, die nur mit großer Unsicherheit gemacht werden können. Wenn dann Menschen oder Umwelt von diesen Aussagen erheblich betroffen sind, sei es doch notwendig, die Betroffenen in die wissenschaftliche Arbeit stärker einzubeziehen, und die Faktengrundlage zu erweitern, eben auch um Fakten, die von Betroffenen persönlich wahrgenommen werden. Doch darin steckt die Unterstellung, dass in der Wissenschaft normalerweise die Unsicherheit von Aussagen keine Rolle spiele. Eine absurde Vorstellung, wenn doch die Angabe von Fehlern und Unsicherheiten in wissenschaftlichen Arbeiten grundsätzlich gefordert wird. Wenn man auch noch in die IPCC-Berichte schaut, springt es einen geradezu an, dass hier überall Angaben zu der Sicherheit der Aussagen gemacht werden. Und das ist hier keine Folge der Selbstwahrnehmung als postnormale Wissenschaft, sondern schlicht Routine.
Um wieder auf das oben zitierte Essay Tognettis zurückzukommen, wegen dem ich diesen Beitrag schreibe: dort wird insbesondere die Haltung und das Vorgehen einer der Entwickler des Gedankens der postnormalen Wissenschaft, Jerome Ravetz, kritisiert. Die Kurzfassung der Kritik Tognettis findet man hier, das pdf-Dokument geht dann in die Details der Debatte.
Um einen langen Beitrag noch länger zu machen: ich habe grundsätzliche Probleme mit Versuchen von Soziologen und Philosophen zu beschreiben, wie Wissenschaft funktioniert. Das Problem fängt damit an, dass sehr unterschiedliche Abläufe mit dem Begriff Wissenschaft zusammengefasst werden. Dazu gehören Menschen, die Naturphänomene, Lebewesen, geologische Strukturen oder astronomische Objekte schlicht beobachten, beschreiben und klassifizieren. Andere führen verschiedenste Messungen durch, beschreiben Daten durch Statistiken, die sie erläutern oder passen Datenreihen durch beschreibende Funktionen an. Wieder andere formulieren grundlegende Thesen über die Ursachen von Ereignissen in der Natur, etwa den Ablauf des Urknalls oder die Entstehung von Arten, und versuchen durch verschiedenste Erkenntnisse daraus Hypothesen und schließlich Theorien zu formulieren. Einige führen mathematische Beweise durch (die einzigen, die in der Wissenschaft tatsächlich etwas beweisen, im Gegensatz zu allen anderen, die zu einer Beschreibung der Natur gelangen wollen, die ein Höchstmaß an Vertrauenswürdigkeit erlangt, ohne je zu einem endgültigen Beweis gelangen zu können - niemand kann beweisen, dass der 2. Weltkrieg jemals stattgefunden hat, trotzdem wissen wir es aufgrund überwältigend vieler Belege dafür). Andere Wissenschaftler erstellen Modelle (in Gedanken oder als Computerprogramm), mit denen Teile der Realität nachvollzogen werden, um zu untersuchen, was unsere Vorstellungen darüber bedeuten und wie plausibel die Konsequenzen aus unserem bisherigen Wissen sind. Sieht man sich die Breite der wissenschaftlichen Arbeit an, versteht man vielleicht, dass ein Modell wie das oft zitierte von Karl Popper nur einzelne Aspekte der Wissenschaft beschreiben kann. Ob alle Schwäne weiß sind, kann man natürlich nicht beweisen, nur widerlegen. Wenn eine neue Art von Schwänen in Australien beschrieben wird, die schwarz ist, ist aber die Publikation über die neue Art wahr oder falsch und insoweit verifizierbar. Wenn ich das geozentrische Weltbild von Ptolemäus dem heliozentrischen von Kopernikus gegenüberstelle, arbeite ich vielleicht in verschiedenen Paradigmen, die den Begriff des Planeten etwas verschiedenes bedeuten lassen - Sonne, Mond und Mars sind bei Ptolemäus Planeten, bei Kopernikus ist nur der Mars ein Planet. Aber Beobachtungen über die relativen Orte dieser Körper sind in beiden Konzepten verwendbar und daher auch nicht paradigmatisch. Die meisten Aussagen in der Wissenschaft ergeben in verschiedenem Rahmen einen Sinn. Kuhns "normale Wissenschaft" ist daher nur in speziellen Fällen relevant.
Die Beschreibung dessen, was Wissenschaft ist, scheitert schon daran, dass die Standards, nach denen Wissenschaft betrieben wird, selbst ständig verändert werden. Es ist einigermaßen absurd, naturbezogene Philosophien aus der Antike und selbst dem Mittelalter neben eigentlicher, rationaler, säkularer Naturwissenschaft in der Neuzeit zu stellen. Weitere Entwicklungsschritte, die den Charakter der Wissenschaft völlig veränderten, sind die Einführung einer Kultur, Wissenschaft auf Artikeln in speziellen Fachzeitschriften basieren zu lassen statt auf Einzelschriften (Bücher), die Einführung von Regeln für Zitate, Aufsatzform usw. und besonders die Einführung der Fachbegutachtung. Selbst da ist die Entwicklung noch nicht zu Ende - in den letzten Jahrzehnten kamen Fragen der Wissenschaftsethik, des Qualitätsmanagements und des Umgangs mit Daten dazu, die bewirken, dass Artikel nach den Standards um 1980 nun im Jahr 2013 unter Umständen nicht mehr publiziert werden könnten. Jede Wissenschaftstheorie, die Arbeiten aus der Zeit von Ptolemäus, von Galileio, von Newton, von Einstein und von heute als vergleichbar nebeneinanderstellt, ist mir zutiefst suspekt. Aus Äpfeln wurden Birnen.
Freitag, 25. Januar 2013
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4 Kommentare:
Danke für den Artikel, hat mein Bild davon, was Post-normal Science ist und was nicht etwas klarer gemacht; bisher hatten die Leugner das mit ihrer Deutung ziemlich überschattet.
Da in dem verlinkten Papier ja auch von "Augenzwinkern" gesprochen wird, hier der Postmodernism Generator:
http://www.elsewhere.org/pomo/
Captain Pithart, bin froh, wenn ich was beitragen konnte.
facepalm, LOL.
Der Meister der postmodernistischen Klimawandel-Verschwurbelung und -Herunterspielerei H.v.S hat wieder zugeschlagen:
http://www.badische-zeitung.de/nachrichten/panorama/sind-wir-noch-zu-retten--69347036.html
Täusche ich mich, oder ist er diesmal von der reinen pomo-Verschwurbelung zusätzlich zur Wiederholung von klassischen Leugner-thesen und Verschwörungstheorien übergegangen?
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