Mittwoch, 24. Oktober 2012

Nachtrag zur Richterschelte - das Erdbeben in L'Aquila

Vorgestern hatte ich mich sehr emotional zu dem Urteil im Prozess gegen Erdbebenexperten in Italien geäußert. In einem kurzen Nachtrag will ich einen Blick auf die Argumente beider Seiten werfen.



Meine Meinung über den Richter Marco Billi hatte ich schon geäußert. Doch wie kommt er trotz der anderslautenden Expertenmeinungen zu seinem Urteil? Genaueres wird man erst nach der schriftlichen Urteilsbegründung wissen. Doch für den Richter könnte die Vorgeschichte maßgeblich gewesen sein, und eine Quelle dafür ist ein Zeitungsartikel der Stuttgarter Zeitung, dessen Inhalt ich in diesem Absatz wiedergebe. Der Grund dafür, dass es zu einem Expertentreffen kam, war die bereits bestehende Verunsicherung in der Bevölkerung. Unter anderem meinte ein selbsternannter Experte ohne Fachkenntnisse namens Giampaolo Giuliani, er könnte Erdbeben anhand von Radonmessungen vorhersagen und in L'Aquila stünde ein großes Erdbeben bevor. Die Methode wird jedoch von Geologen abgelehnt, da sie keine Vorhersagekraft hat. Das schließt natürlich nicht aus, dass nach vielen Flops ein vorhergesagtes Erdbeben zufällig eintritt. L'Aquila ist eine bekannte Erdbebenzone, daher mußte es hier früher oder später ein Erdbeben geben. Nur kann man nicht monatelang oder jahrelang in der Erwartung des Erdbebens ausharren. Entweder zieht man weg oder lebt mit der Gefahr. Daher beschloß der Chef der italienischen Behörde für den Zivilschutz, Guido Bertolaso, ein Expertentreffen und eine Pressekonferenz, um die aufgescheuchte Bevölkerung zu beruhigen. Das heißt aber, der Schwerpunkt der Äußerungen der Expertenrunde lag darauf, dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass ein Erdbeben in nächster Zeit auftreten könnte. Im Nebensatz wurde dabei aber durchaus darauf hingewiesen, dass natürlich L'Aquila in einer Erdbebenzone liegt, ein Erdbeben also immer möglich ist. Aber man könne nicht vorhersagen, dass eines unmittelbar bevorstünde. Diese Aussage wurde dramatisiert mit der Bemerkung von Bernardini, dem anwesenden Beamten des Zivilschutzes: „Entspannen Sie sich doch bei einem Glas Rotwein.“ Die Staatsanwaltschaft behauptet nun, dass diese Beruhigung der Öffentlichkeit sie in falscher Sicherheit gewogen hätte und Menschen, die aufgrund der vorhergehenden Erdstöße in Wohnmobilen und Autos übernachteten, deswegen in ihre Wohnungen zurückkehrten, wo sie dann 6 Tage später das Erdbeben überraschte - 29 Todesopfer seien genau darauf zurückzuführen. Anscheinend hatte sich der Richter dieser Meinung angeschlossen - verurteilt wurde aus seiner Sicht nicht die Expertenaussage, sondern das Ergebnis einer vorher abgesprochenen Medienshow, die die Bevölkerung in falscher Sicherheit gewogen hätte. Doch war es wirklich eine falsche Sicherheit?

Denn diese Meinung des Richters setzt voraus, dass man das weiß, was man heute weiß. Heute wissen wir, wann das Erdbeben eintreten sollte. Nach Kenntnisstand vom 31. März 2009, als die Pressekonferenz gegeben wurde, konnte das Erdbeben aber gleich wahrscheinlich am 6. 4. 2009 oder am 25. 10. 2012 eintreten. Angenommen, die Experten hätten die Beruhigungsshow nicht veranstaltet, wer hätte denn die Verantwortung dafür getragen, dass die Menschen dann logischerweise seit drei Jahren in Autos und Wohnmobilen übernachtet hätten? Wer hätte die Verantwortung getragen für Jahre in Angst, für Tote und Erkrankte aufgrund der schlechten Unterbringung bei jedem Wetter? Wenn die Beruhigungsshow richtig gewesen wäre, wenn das Erdbeben erst drei Jahre später eingetreten wäre, kann sie nicht falsch sein, wenn das Erdbeben nur 6 Tage später eintritt, denn beides war zum Zeitpunkt der Pressekonferenz am 31. 3. 2009 gleich wahrscheinlich. Der Richter macht den Experten also etwas zum Vorwurf, was diese nicht wissen konnten. Nur mit dem Wissen um das, was danach geschah, konnte man die Beruhigung der Öffentlichkeit als Fehlinformation werten. Die Argumentation des Richters beruht indirekt eben doch darauf, dass die Experten das Erdbeben hätten vorhersagen können müssen.

Es bleibt nun abzuwarten, ob in einer höheren Instanz das Urteil wieder kassiert wird. Zu hoffen ist dann, dass ein Richter urteilt, der sich erklären läßt, dass man das Verhalten der Experten nur auf der Basis des Wissens vor dem Ereignis und nicht des Wissens nach dem Ereignis beurteilen kann.

Nachtrag:
Weitere Meinungen zum Urteil in einem Beitrag von ntv.
Im Blog Primaklima wird das Urteil auch kontrovers diskutiert.
morgenweb meldet, dass wegen des Urteils der Chefexperte für die Bewältigung von Naturkatastrophen Luciano Maiani zurückgetreten sei (aus dem Mannheimer Morgen vom 24.10.2012).

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